Der kleine Bär und der graue Tag
Nebelmärchen – Als der kleine Bär eines Morgens aufwacht, sieht er nur “grau”
Als der kleine Bär eines Herbstmorgens aus der Bärenhöhle trat, blickte er sich verwundert um. Dann rieb er sich die Augen, schaute wieder und erschrak. Er sah nämlich … nichts. Die Welt war über Nacht grau geworden. Milchig weißgrau und nass und kalt. Und es war still ringsum im Wald. Eigentümlich still. Nur ab und zu fiel leise knackend oder polternd da eine Kastanie oder dort eine Eichel zu Boden. Hm …
„Das ist bestimmt nur ein böser Traum“, brummte er und rieb sich wieder die Augen. „Ich muss aufwachen und noch einmal aus der Bärenhöhle gehen. Dann werde ich die Sonne sehen und den Himmel, die Bäume gleich neben der Höhle und die Wiese. Ja, und bestimmt werde ich auch meine Freunde im Wald treffen. Ich muss nur den Tag noch einmal von vorne beginnen. Das ist doch ganz einfach, oder?“
Der kleine Bär wandte sich um und kroch wieder in die Höhle zurück.
Dort sah es aus wie immer. Hier sah er auch dieses seltsame nasse Grau nicht. Aber auch seine Geschwister und seine Bäreneltern sah er nicht.
„Komisch“, murmelte er. „Es scheint, ich habe verschlafen und alle sind schon unterwegs auf Futtersuche. Nur mich hat dieser graue Traum hier festgehalten. Ja, so ist das wohl gewesen. Es ist also nichts weiter passiert und ich muss mich nicht fürchten.“
Er fuhr sich mit den Tatzen nochmals über die Augen, schüttelte sich und atmete tief durch. Dann kroch der erneut aus der Höhle und trat beherzt einen Schritt ins Freie.
Und er erschrak erneut. Es war noch immer da, dieses graue Grau dort draußen. Nein, irgendwie war es noch näher gekommen. Es war so nahe, dass der kleine Bär keinen Schritt weiter sehen konnte. Keinen Schritt weiter nach vorne und keinen Schritt weiter zurück. Ja, selbst den Eingang zur Höhle konnte er jetzt nur noch mühsam erkennen.
„Haben wir einen Grautag heute?“
Der kleine Bär spähte ins nasse Grau hinein, tapste noch einen Schritt und noch einen Schritt und noch einen immer weiter dorthin, wo gestern die drei großen Eichen gestanden hatten.
„Würde mich nicht wundern, wenn dieses Graudings die Bäume aufgefressen hätte. Und die Wiese. Und den ganzen Wald.“
Vor lauter Wundern vergaß der kleine Bär ganz seine Furcht. Aufregend war es irgendwie. Und spannend.
Mutig tappte er weiter dorthin, wo gestern noch die Bäume ihren Platz gehabt hatten.
Bums! Hart knallte er mit dem Kopf an den Stamm der mittleren Eiche.
„Aua!“ Der kleine Bär rieb sich die schmerzende Stirn. „Das hat weh getan.“
Fast vorwurfsvoll klopfte er mit der Tatze an den Baumstamm.
„Das ist nicht nett von dir. Sag, warum versteckst du dich vor mir, du Baum, du?“
Die Eiche schwieg. Nur ganz sacht raschelten ihre Blätter, die der Herbst, dieser unsichtbare Geist, in den letzten Wochen erst gelb und dann braun gefärbt hat.
Leise sirren sie: „Das ist Nebel-Nebel-bel-bel-bellll …“
Der kleine Bär dacht nach.
Ob der Herbst, dieser fremde Kerl, dieses Grauzeugs geschickt hat, so wie er neulich beinahe über Nacht auch die Blätter mit bunten Farben bemalt hatte?
„Ich glaube“, murmelte er, „ich muss noch viel lernen. Morgen. Heute fühle ich mich – irgendwie – etwas grau.“
Und vorsichtig tastete er sich zurück zur Höhle und kuschelte sich wieder in seine Schlafecke.
© Elke Bräunling
Hier kannst du dir „Der kleine Bär und das Nebelgrau“ anhören:
Lausche der Stimme meiner lieben Kollegin Regina Meier zu Verl. Sie hat diese Geschichte für dich aufgenommen. Du kannst sie dir hier anhören. Hab Spaß damit!
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