Mia und der Geigengeist
Kindergeschichte vom Träumen – Traumgeister sind gar nicht so grausig und böse, wie man denkt. Im Gegenteil. Der Geigengeist, der oft in Mias Träume kommt, hat zum Beispiel ein ganz besonderes Problem …
Mia hat Kummer. Sie grault sich vor einem finsteren Geist. Der hat heute Nacht vor ihrem Bett gestanden und Geige gespielt. Die Musik hat schaurig geklungen. Gequietscht hat sie, gerasselt und geklirrt. Dann haben die Vorhänge zu rascheln begonnen, das Fenster hat geklappert, und der Mond hat Schattenbilder an die Wand gezaubert.
Mia ist in ihrem Bett gesessen und hat sich die Ohren zugehalten.
Da ist der Geist näher gekommen und hat geheult! Schauriggrausig laut. Uuiiihhhh!!!
Da hat Mia auch geheult, und Mama und Papa sind gekommen und haben Mia getröstet.
“Das ist bestimmt ein Traumgeist gewesen”, hat Papa gesagt. “Du musst keine Angst haben! Er tut dir nichts!”
Mia hat aber Angst gehabt, und Mama hat überall im Zimmer nach dem Traumgeist gesucht. Aber der ist nicht mehr dagewesen. Trotzdem hat sich Mia gefürchtet.
Auch heute muss sie immer an diesen unheimlichen Kerl denken. Es ist, als dröhnte seine Gruselmusik noch immer in ihren Ohren. “Er war eklig”, sagt sie und schüttelt sich. “Und seine Musik war sooo gemein!”
Ihre Geschwister lachen. “Geister machen keine Musik! Hoho!”
“Ich habe ihn aber gesehen! Und gehört! Wirklich wahr!”
Beleidigt geht Mia zu ihrer Schaukel im Garten, die, so sagt Mia, eine Zauberschaukel ist. Nachdenklich schaukelt Mia auf und ab.
“Wovor hast du Angst?”, fragt eine Stimme, und ein fremdes Mädchen, das wie eine Fee aussieht, steht vor Mia. “Du lachst auch nicht so fröhlich wie sonst!”
“Wie sonst?”, wundert sich Mia. “Wer bist du?”
“Ich bin Traumkind”, sagt das Mädchen, “und ich weiß, dass du Kummer hast mit dem Geigengeist.”
Mia nickt. “Und wie!”, seufzt sie. “Ein schauriger Kerl ist das!”
Traumkind lächelt. “Der Geigengeist ist sehr lieb und sehr schüchtern. Willst du ihn kennen lernen?”
“Nein!”, ruft Mia, doch da setzt sich die Schaukel schon in Bewegung, und ehe sich Mia versieht, schweben Mia und das Traumkind am Himmel.
Sie kommen zu einem Wald. Über einem kleinen See macht die Schaukel Halt. Schön ist es hier. Von allen Seiten spiegeln sich die Bäume im Wasser und malen das Wasser grün an. Auf der Oberfläche blinkern Sonnenstrahlen wie viele kleine Sternchen.
Mia staunt. “Wie eine Schatztruhe sieht der See aus!”
“Das ist der See der stillen Klänge”, sagt das Traumkind.
Im gleichen Augenblick ertönt im Rhythmus der auf dem Wasser funkelnden Sonnensternchen eine Geigenmelodie. Sanft klingt sie und zart und wunderwunderschön.
Überrascht lauscht Mia. Ihre Angst ist wie weggeblasen. Was für eine tolle Musik! Mia vergisst alles um sich herum.
“Das ist der Geigengeist!”, flüstert Traumkind nach einer Weile.
Mia schüttelt den Kopf. Das ist doch nicht diese schaurige Musik von heute Nacht?
Da deutet Traumkind auf einen Felsen am Rande des Sees. Ein Junge im weißen Spitzenhemd mit Samtfrack, Bundhosen und einem Haarzopf sitzt dort und spielt Geige. Er ist so in sein Spiel vertieft, dass er nichts anderes wahrzunehmen scheint.
Mia aber kann es nicht glauben. Das ist kein Traumgeist! Oder doch?
Wie gebannt starrt sie zu dem Felsen hinüber.
Der Fremde spielt und spielt, und Mia und Traumkind lauschen. Ewig könnte Mia dem Geigenspiel zuhören. Doch dann kann sie nicht mehr an sich halten. Sie klatscht begeistert in die Hände und ruft: “Toll!”
Im gleichen Moment macht die Geige einen grässlichen Quietscher, und der Traumgeist fängt an zu schlottern und zu zittern. Ängstlich blickt er zu Mia herüber.
“Der Geigengeist!”, heult Mia. “Au weia!”
“Hilf ihm!”, sagt Traumkind. “Er fürchtet sich viel mehr als du!”
Wirklich. Der arme Kerl ist bleich wie ein Leintuch. Er zittert an Armen und Beinen, und seine Geige quietscht so erbärmlich, dass es wie ein verzweifeltes Weinen klingt.
“A-aber wie kann ich ihm helfen?”, fragt Mia verzagt. “E-er ist doch ein Geist!?” Und weil ihr nichts Besseres einfällt, singt sie: “Nur Mut! Dann geht alles gut! Hab keine Angst, mit Mut geht´s dir gut!”
Mia singt und singt. Und es klappt: Der Geigengeist beruhigt sich. Aufmerksam sieht er Mia an, dann hebt er die Geige ans Kinn und begleitet Mias Gesang. Schön klingt das.
Der Geigengeist lächelt, und auch Mia lächelt. Sie singt immer weiter, und der Geigengeist spielt dazu. Nie hätte Mia gedacht, dass Musizieren so viel Spaß machen würde! Ewig könnte sie so weiter singen. Sie schließt die Augen und singt und lauscht und freut sich…!
Als sie die Augen später wieder öffnet, sitzt sie daheim auf ihrer Schaukel. Ihre neuen Freunde, der Geigengeist und das Traumkind, sind verschwunden, aber die Musik klingt noch immer in ihren Ohren.
Mia lächelt. “Vielleicht besucht er mich ja wieder, der Geigengeist”, murmelt sie, und sie freut sich schon darauf…
© Elke Bräunling
Geigentraum, Bildquelle © mohamed_hassan/pixabay