Groß wie ein Baum

Kindergeschichte – Gedanken vom Kleinsein und der Bedeutung von Größe

„Ich will groß sein“, sagte das Kind. „So groß wie ein Baum.“
„Und?“, fragte der Großvater. „Was würdest du dann tun?“
„Dann wäre ich größer als die anderen aus meiner Klasse“, antwortete das Kind. „Das wäre cool.“
Der Großvater musste schmunzeln. „Ist das wichtig?“
Das Kind nickte. „Und wie!“
„Warum?“
„Weil … Weil es mir dann besser gehen würde und weil …“
Das Kind suchte nach den richtigen Worten, um dem Großvater zu erklären, wie gemein es sich anfühlte, kleiner als alle Mitschüler, sogar kleiner als die Mädchen in der Klasse zu sein. Und wie viel Angst man empfand, wenn die anderen sich darüber auch noch lustig machten. Einfach, weil man dann gleich dachte, man sei kleiner und dümmer und weniger wert. Auch wenn dies dumme Gedanken waren, schlichen die sich doch immer wieder in den Kopf und das war doof. Wenn es dies nun aber so sagte, würde der Großvater bestimmt sein Großvaterlächeln lächeln, wie er es sonst auch tat, wenn er trösten wollte. Das Kind wollte aber nicht getröstet werden. Davon würde es auch nicht wachsen oder sich größer fühlen.
„Wenn man klein ist, fühlt man sich dumm und weniger wichtig!“
Jetzt war es ihm doch herausgerutscht. Die Worte waren ihm einfach über die Lippen gepurzelt, vielleicht, weil sie eben doch die wichtigen und richtigen Worte waren.
Erschrocken sah es den Großvater an. Der lächelte nicht.
„Komm!“, sagte er. „Gehen wir ein paar Schritte! Beim Gehen lässt es sich besser denken.“
War das so? Das Kind zuckte mit den Schultern und folgte dem alten Mann.
Ihr Weg führte sie an den Feldern vorbei hinüber zu den Weinbergen. Dort wurde es steiler, doch das störte nicht, denn es gab unterwegs viel zu sehen. Beim Marienhain, der von zwei hohen Zypressen umsäumt mitten im Weinberg stand, machten sie Halt. Sie liebten beide diesen Ort und während der Großvater vor der steinernen Maria verharrte, blickte das Kind an den beiden schlanken Bäumen empor. Sie überblickten alles. Den Weinberg, die Felder und die Ebene, die sich dem Hügelland anschloss.
„Gehen wir weiter?“ Der Großvater drängte. „Ich will dir etwas zeigen.“
Was? Das Kind war neugierig. Den ganzen steilen Weg bergauf überlegte das Kind nun, wo das Ziel ihrer kleinen Wanderung sein könnte. Es hatte keine Idee.
„Siehst du die Zypressen bei unserer Heiligen Maria?“, fragte der Großvater später, als sie den Waldrand erreicht hatten und von hier oben über das weite Weinland blickten.
Das Kind nickte. „Klar“, antwortete es. „Aber sie sind ganz klein nun. Klitzeklein.“
Und da war es auf einmal, jenes wissende Großvaterlächeln, das das Gesicht des alten Mannes strahlen ließ.
Das Kind begriff. Es war alles eine Frage der Sichtweise und des Standortes. Groß oder klein? Es war unwichtig. Wichtig war nur zu wissen, wo man stand.

© Elke Bräunling

Sehr klein können große Bäume sein, Bildquelle © kasabubu/pixabay

 

 

Groß oder klein? – Meditation – Musik von Elke Bräunling und Paul G. Walter

 

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