Briefe nach Berlin
Geschichte zum Nachdenken für Groß und Klein – Wenn man Fragen an die Politiker hat …
Neuerdings sitzt Opa jeden Tag an seinem alten Nussbaumschreibtisch, der einst seinem Großvater gehört hat, und schreibt Briefe. Viele Briefe nach Berlin fein sauber mit Tinte auf teurem Büttenpapier. Die Umschläge verschließt er sorgfältig mit einem roten Siegel, das er auch von seinem Großvater aufbewahrt hat. Seine Briefe sollen Eindruck machen und unbedingt gelesen werden. Daher kommt das Schreiben am Computer für ihn nicht infrage.
„Es ist zu wichtig“, sagt er, als ich ihn danach frage. „Es erfordert besondere Maßnahmen, wenn man Beachtung finden will.“
„Und? Wirst du beachtet?“, erkundige ich mich und habe dabei Mühe, mir das Grinsen zu verkneifen. Wird Opa schrullig? Er ist doch sonst so modern und allem Neuen gegenüber aufgeschlossen!
„Noch nicht“, antwortet Opa. „Aber man wird uns dort in Berlin eines Tages beachten. Dessen bin ich mir gewiss. „Mich und meine Freunde.“
„Deine Freunde?“ Ich horche auf. „Schreiben die denn auch solche … Briefe?“
„Aber gewiss!“ Opa grinst und reibt sich den Bauch. „Und es werden immer mehr.“
„Mehr was? Briefe?“
„Das auch. Briefe und Teilnehmer an unserer kleinen Aktion, die vielleicht eine große werden wird, was ich sehr hoffe. Für mich, für uns und vor allem für euch und eure Zukunft.“ Opa nickt zufrieden.
Das klingt seltsam, fast so, als wäre es etwas Verbotenes. Naja, das ist es wohl nicht ganz, aber doch wohl etwas Unbequemes, das scheint es zu sein.
„Und was schreibt ihr da so?“, frage ich vorsichtig.
„Was sollen wir da denn schreiben? Was glaubst du?“, beantwortet er meine Frage mit einer Gegenfrage.
Ich stutze. Doch ich ahne, was er meint, will es aber eigentlich lieber nicht wissen. Es ist bequemer.
„Ich weiß ja nicht einmal, wem du, äh, wem ihr diese Briefe schreibt“, versuche ich mich herauszureden. „Dem alten Kaiser vielleicht? Oder seinen Ministern?“
„Der ist tot und Minister gab es im Kaiserreich keine, nur einen Kaiser, einen Kanzler und dessen Staatssekretäre“, meint Opa trocken.
Ups! So genau will ich das gar nicht wissen.
„Äh!“, mache ich, doch Opa spricht schon weiter.
„So falsch ist deine Frage aber nicht. Nein, gar nicht.“ Er grinst wieder und ich erschrecke nun doch.
„Du schreibst an den Bundeskanzler oder an seine Minister?“, stammle ich, denn ich kann es mir so gar nicht vorstellen, dass Opa glaubt, diese Leute würden seine Briefe überhaupt anfassen oder gar lesen.
„Ja. Warum nicht? Sie arbeiten für uns und wir sind das Volk und wenn wir eine gute Idee haben oder wenn uns etwas an der Politik nicht passt, so haben wir das Recht, den Politikern dies auch mitzuteilen. Und zur Zeit gibt es viele Dinge, die uns nicht gefallen und die uns Angst um unser Land und unsere Zukunft machen. Was also ist daran falsch, Fragen zu stellen und Bitten zu äußern?“
„Nichts!“, gebe ich zu und ich finde es ganz schön mutig, was Opa und seine Freunde da machen. „Aber die lesen das doch nicht“, sage ich dennoch, weil ich mir das wirklich nicht vorstellen kann.
„Das wissen wir auch.“ Opa lässt sich nicht aus der Ruhe bringen. „Aber sie sollen wissen, dass wir mit vielen Entscheidungen, die sie treffen, nicht einverstanden sind. Dazu brauchen sie unsere Briefe nicht zu lesen. Sie sehen nur, dass es immer mehr werden, die täglich bei ihnen eintreffen.“
„Oh, wie schlau!“, rufe ich und stelle mir vor, wie jeden Tag mehr Leute immer mehr Briefe nach Berlin schicken, bis es so viele sind, dass sich überall in den Ministerien und im Kanzleramt riesige Briefberge auftürmen. „Was für eine coole Idee!“
„Wir sind ja auch cool!“, sagt Opa und klingt auch so. Cool. „Man ändert Dinge, die nicht gefallen, nur, indem man etwas tut. Und nun lass mich weiter schreiben, in einer Stunde ist Briefkastenleerung. Und wenn du auch cool sein willst, so schreib nach Berlin. Dir fällt bestimmt etwas ein, worum du einen Politiker bitten möchtest. Nur Mut!“
© Elke Bräunling
Reichstag in Berlin – Dem deutschen Volke, Bildquelle © manfredgrund-mdb