Opas fremde Worte

Kindergeschichte vom Erinnern, nicht nur zum Vatertag – Von Vätern, Papa, Opa und dem Vergessen

Es ist Frühling, es ist Feiertag und es regnet. Seit Tagen regnet es schon und kalt ist es auch. Und das mitten im Mai, besser gesagt am Christi Himmelfahrtstag, der auch Vatertag ist. Dabei haben wir so viele Pläne und Ideen für diesen Tag gehabt. Obwohl Papa mit dem Vatertag nichts am Hut hat, wollen wir diesen Tag richtig toll feiern. Mit einem Ausflug zum Grillplatz am Fluss, mit Lagerfeuer, Würstchen, Fleischklößchen, Grillgemüse, Stockbrot und Kartoffelsalat. Und mit Gitarrenmusik. Für Papa haben wir ein paar neue Songs eingeübt und vielleicht würde auch Opa Lust haben, für uns zu spielen.
Opa, der Papas Papa und somit auch ein Vatertagsvater ist, ist nämlich ein supertoller Gitarrenspieler. Früher hat er in einer Band gespielt und Gitarrenunterricht gegeben. Heute spielt er nur noch für uns daheim. An den guten Tagen, an denen die Finger noch auf den Kopf hören mögen und die Worte noch ihren Weg aus seinem Mund finden und er seine Songs für uns singen kann. Leider werden diese guten Tage immer seltener. An den schlechten klingt sein Gitarrenspiel auch so, schlecht nämlich, und Worte zum Sprechen findet er dann auch nicht. Das ist so schade und es macht uns alle traurig. Diese doofe Krankheit in seinem Kopf macht aus Opa einen Mann mit zwei Gesichtern, einem guten und einem weniger guten.
Ob heute ein guter Tag ist, wissen wir noch nicht so genau. Wir sind alle nicht besonders gut gelaunt wegen des Regenwetters und des geplatzten Vatertags-Grillausflugs, und Opa ist es auch nicht. Er mag nicht reden und auch nicht Gitarre spielen. Ich glaube, er weiß heute auch unsere Namen nicht so recht. Die vergisst er an weniger guten Tagen nämlich genau so wie die Worte, die er sagen möchte.
Solche vergessenen Tage stimmen uns so sehr traurig, dass wir wenig Lust zum Feiern oder Musizieren oder was auch immer haben. Schon gar nicht bei kaltem Regenwetter. Also bleiben wir zuhause und grillen auf der Terrasse. Die hat ein Dach.
Später sitzen wir lustlos am Küchentisch und spielen Scrabble. Man muss ja schließlich irgendetwas tun und Scrabble ist unser Lieblingsspiel. Früher ist Opa da der große Star gewesen. Keiner hat ihn besiegen können und ich wünsche mir immer wieder, dass dies noch heute so sein könnte. Auch wenn ich nicht gerne verliere, würde ich ihm doch alle Siege dieser Welt für einen guten Tag ohne dieses blöde Vergessen von Herzen gönnen. Ehrlich. Und heute am Vatertag ganz besonders. Aber er schafft es nicht mal, Wörter mit nur drei Buchstaben zu legen, obwohl er sich viel Mühe gibt. Seine Worte, die er zusammenstellt, sind Worte, die es nicht gibt.
Immer trauriger blickt Opa deswegen drein und Mama will schon das Spiel abbrechen, doch ich habe so ein seltsames Gefühl, dass Opas Nichtworte sehr wohl Worte sind. Lateinische nämlich. Die Worte ‚nomen’ legt er mit seinen Bausteinen und ‚ira‘ und ‚amor‘ und ‚filius‘ und ‘caesar’ und ‚oppidum‘ * und viele andere und als ich beginne, sie zu übersetzen, lächelt er mich an, der Opa. Es ist ein glückliches Lächeln und wir sind gleich auch sehr glücklich. Es wird doch noch ein guter Tag, dieser Vatertag, und dafür bin ich dankbar.

© Elke Bräunling

* ‚nomen’ (=Name), ‚ira‘ (=Zorn), ‚amor‘ (=Liebe), ‚filius‘ (=Sohn), ‘caesar’ (=Feldherr), ‚oppidum‘ (=Stadt)

Die Sache mit den lateinischen Worten mag seltsam klingen, doch genau so habe ich es damals als Schulkind erlebt. Mein Opa hatte in seinem letzten Lebensjahr wie der Opa in der Geschichte gute und schlechte Tage gehabt.
An schlechten Tagen waren wir ihm völlig fremd, obwohl wir zusammen in einem Haus wohnten. Er war dann ein ganz anderer, trauriger und sehr hilfloser Mann und sehr verwirrt. Oft hatte er Albträume. Nachts weinte er, manchmal schrie er so laut, dass wir immer wieder wach wurden und zu ihm hinunter in sein Schlafzimmer rannten. Von Kriegen redete er dann, von Feuer und Gefechten, von Russland und gefährlichen, “bösen” französischen Soldaten, vor denen wir uns unbedingt in Schutz nehmen sollten. Die beiden großen Kriege, die er miterleben musste, hatten ihn so sehr geprägt, dass ihn alle unguten Erinnerungen an solchen schlechten Tagen plagten. Und seither hatten mein Bruder und ich auch von Kriegen und Schüssen und Feuer geträumt und Angst gehabt.
Diese Träume habe ich manchmal noch immer und wie ich mittlerweile aus vielen Gesprächen und Büchern weiß, bin ich damit nicht alleine. Die Kriege des 20. Jahrhunderts sind für viele Menschen noch lange nicht zu Ende. Auch nicht für jene, die wie ich damals noch gar nicht gelebt hatten.
Was die beiden Weltkriege betrifft, so hat die Autorin Sabine Bode zu diesem Thema ausführlich recherchiert und die Symptome, Erfahrungen, Träume und Albträume vieler Menschen aus drei Generationen in ihren drei Büchern Die vergessene Generation: Die Kriegskinder brechen ihr Schweigen *, Nachkriegskinder: Die 1950er Jahrgänge und ihre Soldatenväter * und Kriegsenkel: Die Erben der vergessenen Generation * dargelegt.
Mir haben diese Bücher sehr geholfen, zu verstehen: die Großeltern, die Eltern und mich.
Doch zurück zu meinem Opa.
Wie der Opa in der Geschichte wusste er an schlechten Tagen manchmal nicht mehr unsere Namen und auch nicht all die Worte, die er uns sagen wollte. Ich glaube, er wusste in solchen Momenten nicht einmal, wer er selbst war. Nur aus den Kriegen konnte er alles, was man ihn fragte, immer und immer wieder erzählen. Und das Latein aus der Schulzeit, das beherrschte er auch noch meisterhaft. Oft hat er mir bei den Hausaufgaben – oder beim Vokabeln lernen – geholfen und sich diebisch gefreut, wenn meine Mutter uns dabei erwischte.

 

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Scrabblefest, Bildquelle © Wokandapix/pixabay

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