Die Sache mit dem Vergessen
Familiengeschichte – Es ist doch nicht so schlimm, etwas zu vergessen, oder?
„Hast du an die Einladung bei den Weidmanns heute Abend gedacht?“, fragt Mama Papa beim Frühstück. „Ich besorge einen Blumenstrauß. Denkst du an den Wein?“
„Welchen Wein?“ Papa sieht von seinem Handy auf, in das er gerade eine SMS an Irgendwen getippt hatte. „Und welche Einladung?“
Mama seufzte. „Sag bloß, du weißt nicht, dass die Weidmanns heute ihre Silberhochzeit feiern? Seit Wochen reden sie über nichts anderes und du …“
Nun seufzte auch Papa. „Oh je!“, sagte er. „Das habe ich ganz vergessen. Und eigentlich habe ich auch gar keine Lust auf dieses Fest. Können wir nicht …“
„Nein“, sagte Mama. „Wir können nicht absagen.“ Ihre Augen funkelten. „Warum nur vergisst du immer diese Dinge besonders schnell, die du nicht unbedingt gerne haben magst?“
Papa hob beschwichtigend die Arme. „Schon gut. Schon gut. Gehen wir auf dieses Fest. Friede?“
„Friede.“ Mama nickte. Aber man sah ihr an, dass sie sich ärgerte. Sie ärgerte sich immer, wenn Papa etwas vergaß. Das tat er nämlich wirklich nur bei Dingen, die er nicht leiden mochte oder von denen er hoffte, dass Mama sie auch vergessen würde.
Mama aber hatte ein Gedächtnis wie ein Elefant. Nie vergaß sie etwas. Na ja. Fast nie.
„Wo hast du deine Schultasche?“, fragte sie Karla nun. „Und was schreibst du jetzt beim Frühstück noch in dein Heft?“
„Das Ende vom Aufsatz“, sagte Karla und schrieb weiter. „Das habe ich gestern vergessen, fertig zu schreiben.“
„Wie kann man ein Ende vergessen?“, knurrte Mama. „Du weißt, dass …“
Sie redete nicht weiter, aber sie seufzte wieder. Lauter nun. „Was seid ihr nur vergesslich!“
Sie wandte sich zu Anton, der in seinem Müsli herumstocherte.
„Und was hast du heute vergessen, mein lieber Anton?“, fragte sie und es sollte wie ein Scherz klingen.
Anton zog den Kopf ein. „So’n bisschen ‚was“, murmelte er, ohne Mama anzusehen.
„Ein bisschen? Was ist ein bisschen?“
„Naja“, sagte Anton und starrte noch tiefer in sein Müsli. „Das mit dem Diktat heute habe ich vergessen. Echt ehrlich. Und meine Brotdose finde ich auch nicht. Ich glaube, ich habe sie gestern bei Kai liegen gelassen. Ja, und Philipps Mutter kann uns heute nicht zur Schule fahren. Das Auto ist in der Werkstatt.“
„Sie kann euch nicht fahren? Ja, wie kommt ihr denn dann in die Schule?“ Mama sprang auf. „Warum sagst du mir das erst jetzt?“
Kläglich sah Anton Mama an. „Das …das habe ich auch vergessen.“
„Herrgottnochmal! Wo habt ihr nur alle eure Köpfe?“
Mama war aufgesprungen und sah Papa, Karla und Anton wütend an.
„Was Zuverlässigkeit betrifft, so kann man euch alle manchmal echt vergessen. Wo habt ihr nur eure Gedanken? Nichts als Ärger hat man mit eurer Vergesslichkeit. Und jetzt beeilt euch. Ich fahre euch zur Schule und … Ach was! Los! Los! Beeilt euch.“
Opa, der die ganze Zeit schweigend auf sein Marmeladenbrot und das Frühstücksei gestarrt und noch nichts davon gegessen hatte, hob den Kopf.
„Sonntag“, sagte er nun. „Es ist doch Sonntag heute. Warum habt ihr es alle so eilig?“
„Nein“, antwortete Mama und ihre Stimme klang auf einmal sehr sanft. „Übermorgen ist Sonntag. Heute ist Freitag und nachher hast du eine Verabredung mit deinem Freund Andreas im Klostercafé.“
„Andreas? Andreas wer?“ Opas Augen glitten unruhig über den Frühstückstisch, dann erhellte sich seine Miene. „Ach, der Andreas. Den kannte ich schon, als er ein kleiner Bub war. Aber das mit dem Sonntag, das hatte ich doch tatsächlich vergessen.“
Er lachte unbeholfen und Mama, Papa, Karla und Anton lachten mit. Auch unbeholfen. Und vorsichtig. Opa vergaß in letzter Zeit so viele Dinge, die man eigentlich nicht vergessen sollte.
„Mach dir nichts daraus“, tröstete Mama ihn. „Jeder kann sich einmal irren.“
„Stimmt“, rief Anton schnell. „Jeder kann sich einmal irren. Auch Kinder können das und keiner muss sich deswegen ärgern. Klar?“
„Klar“, sagten da alle wie aus einem Munde und mehr gab es dann dazu auch nicht mehr zu sagen.
© Elke Bräunling
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